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Flucht aus dem Sudetenland

Annelies Schermaul schließt sich auf ihrer Flucht aus dem Sudetenland in Richtung Westen einem Flüchtlingstross an. Dort sieht sie zum ersten Mal zwei Männer aus dem KZ Theresienstadt (Terezín im heutigen Tschechien). Gefangene in Konzentrationslagern wurden damals oft als „Häftlinge“ bezeichnet, obwohl sie entgegen des heutigen Verständnisses dieses Begriffs häufig ohne Gerichtsurteil zeitlich unbefristet und unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert waren.
Als sie das Egerland erreicht, werden die Männer und Frauen des Trosses getrennt und die Männer nach „SS-Abzeichen“ untersucht. Frau Schermaul bezieht sich hierbei auf die sogenannte Blutgruppentätowierung. Sie wurde bei vielen Mitgliedern der SS, u.a. der Waffen-SS und den Totenkopfverbänden, auf die Innenseite des linken Oberarms tätowiert, um so bei medizinischen Notfällen die Blutgruppe des Patienten anzuzeigen. Nach Kriegsende wurde die Tätowierung jedoch häufig dazu genutzt, Angehörige der Waffen-SS ausfindig zu machen, die sich als normale Soldaten ausgaben oder unter die Zivilbevölkerung gemischt hatten.
Frau Schermaul wird einer Marschkolonne nach Norddeutschland zugeteilt, wo sie hofft, in Oldenburg ihre übrige Familie bei einem Großonkel zu finden. Eine Kollegin von ihr, ebenfalls eine junge Lehrerin, wird hingegen in ein Lager in Prag geschickt, in dem sie vermutlich wegen schlechter Behandlung stirbt. Die Gründe für diese unterschiedliche Zuteilung können heute leider nur noch gemutmaßt werden.
Die Reise der Marschkolonne endet in Bayern, wo Frau Schermaul schließlich bei einem Bauern in Wolfertsbronn unterkommt und arbeitet.

Sudetenland wurde überhaupt nicht bombardiert. Wir waren ja weiter weg, im Gegenteil, uns brachte man die Bombardierten von Köln und dann die Dresdner und vom Osten kamen da die Züge, die Pferdewagen mit ihrem Allen. Also Sudetenland wurde vollgestopft, weil es eben noch eine gewisse heile Welt war und ich hatte da in der Stadt, das war zwei Stunden von meinem Heimatort entfernt, hatte ich einen Lehrauftrag, eine Bubenklasse. Ich kriegte immer was Besonderes. Kind vom Schulrat in der Klasse und so weiter. 

Und das war der fünfte Mai und ich konnte nicht mehr zurück fahren in meine Heimat, weil die lag Osten und dort waren die Russen über Schlesien schon hereingekommen. Und pflichtgetreu der Pflicht, die man ja hatte, wollte ich an dem sechsten in die Schule gehen. Ich dachte, irgendetwas muss ich da ja noch machen und für meine Kinder sorgen. Jetzt muss ich noch zurück und ich hatte in meinem Haus ein Mädchen aus Schlesien aufgenommen, weil die ja alle Platz suchten. Und ihr Freund hatte eine Kompanie der Wehrmacht, lieber Gott, was haben die gemacht? Immer wie hießen denn die? Die haben immer Streit schlichten müssen und weiß ich nicht mehr. Und die standen in dem Städtchen, wo ich war, in unseren Straßen. Naja, die kamen ja alle vom Osten und alle wollten sie in Richtung Westen und da kommt der und will seine Verlobte abholen, dass sie am nächsten Morgen sich absetzen in Richtung Amerikaner, dass sie den Russen nicht in die Hände fallen. Und das sieht er mich so an und sagte: „Und ich würde ihnen raten, auch mitzugehen. Junge Lehrerin, Tschechen, Russen. Wir wissen, was kommt.“ 

Und wie gesagt, da bin ich in die Stadt gegangen und wollte nochmal in die Schule. Da traf ich meinen Schulleiter mit dem Kreisleiter, beide noch in Uniform, und da hab ich halt zu ihm gesagt: „Man hat mir jetzt gesagt, ich sollte mit ihnen mitgehen, dass der Russe uns nicht kriegt.“ Und da gab der mir zur Antwort, mein Vorgesetzter, das würde er mir auch raten. Und wie der das halt sagte, nach Hause konnte ich nicht mehr. Wo will ich denn hin? Dachte ich, da hat er Recht, da ziehe ich mit diesem Tross mit und das ging furchtbar zu. Das war so ein Blühen, so ein herrliches Wetter, das ganze Elbenland blühte und da zogen wir halt mit einem Tross durch. Also Pferdewagen und Militär und Zivilisten. Das sag ich das erste Mal zwei Männer in gestreiften Anzügen und ich hab gefragt: „Was sind denn das für welche?“ „Die kommen aus Theresienstadt. Die hab ich das erste Mal gesehen, das waren also Häftlinge. Und ich hatte natürlich, wenn ich weiß, ich gehe mit, alles aus meinem Zimmer mitgenommen, in ein Auto verstaut, sogar die Vorhänge von der Wand und meine Geige. 

Alles hab ich mitgenommen und dann kamen wir nach langer Fahrt an eine Kreuzung, da hat ein deutscher Soldat Verkehrspolizist gespielt oder musste ja sein. Und er sagte: „Ihr müsst hier fahren, da oben sind die Russen.“ Und in dem Moment kam ein russischer Panzer von oben und sperrte uns die Fahrt ab und da hieß es: Was geschieht jetzt? Frauen und Soldaten müssen hier bleiben, Zivilisten dürfen weiterfahren und da packt mich ein Soldat. Ich würde nicht erkennen, aber ich sehe ihn noch. Ich sehe den Russen, wie der da auf uns zielt in die aufgehobenen Arme der Frauen, die hinter uns standen, und der Männer, schiebt uns in so einen Wehrmachtswagen hinein, die die Wehrmacht immer dabei hatte, „Kopf nach unten“ sagte und fuhr durch den Straßengraben eben denen allen davon. Verfolgen konnten uns die Russen nicht, weil zu viele Menschen hinter ihnen waren. 

Und so sind wir halt weitergefahren, die ganze Woche lang da durch das Land. Mal da übernachtet auf der Wiese, mal dort und dann kann man in Engerland in das Kloster Petschau. Nur noch die Frauen, die Männer wurden alle auf den Wiesen da gesammelt. Da suchte man überall da das SS-Abzeichen bei ihnen. Sie wurden entkleidet und kamen dann in Gefangenschaft. Wir Frauen waren im Kloster Petschau, da hab ich das erste Mal in meinem Leben wehrmachtsangehörige Damen kennengelernt. 

Und dann kamen wir in das Lager in Marienbad. Und da sammelt sich dann auch Zivilisten, Männer, Frauen, Kinder, aber keine Soldaten mehr. Und das Lager war groß, das war der Flugplatz von Marienbad. Und da hätte ich meinen Mann schon kennenlernen können. Mein Mann war nämlich als Soldat nach Hause gelaufen nach Teplitz-Schönau und nach vielen Verhaftungen hat er dann in Marienbad in einer Milchhalle Milch ausgetragen. Und da ist er jeden Morgen ins Flüchtlingslager gegangen und hat die Milch gebracht und ist immer an den angestellten Leuten vorbei gelaufen und da war ich dabei, aber wir haben uns nicht kennen gelernt. Und in dem Marienlager, das kann ich ja gleich anschließend sagen, da war es nicht schlecht. Wir waren geschützt, hatten aber das Verbot, das Lager nicht zu verlassen, weil draußen die Soldateska kämpft, das waren die tschechischen Soldaten. Und da fuhren auch immer Grölende vorbei, Betrunkene. Also wir waren im Lager, wir lagen halt auf Pritschen, das weiß ich nicht mehr so genau, aber wir kriegten Essen und lernten da andere Menschen kennen und da waren wir vier Wochen ungefähr, nein, drei Wochen vielleicht. 

Und jetzt musste ja jeder angeben, wo er hin will, wer in dem Lager ist. Wir hatten uns ausgemacht zu Hause, wenn einmal etwas geschieht und wir nicht mehr nach Hause können im Krieg. Wir hatten einen Großonkel in Oldenburg, Oldenburg in Oldenburg. Und da haben wir gesagt: „Das ist dann der Treffpunkt.“ Und da hab ich halt in dem Lager, da war ein deutscher junger Major, ein amerikanischer deutsch sprechender junge Major, sehr netter Mann, hübscher Mann. Und der hat uns da befragt und dann kam ich halt auch dran. Ja, wo ich her wäre? Aus Reichenberg und ich kann da nicht mehr hin und möchte eben zu dem Onkel und brav war ich. Ich hab gesagt, ich war im BDM und bin junge Lehrerin, da war man ja noch so ehrlich und dumm. Und dann sagt er dann plötzlich „Marschgruppe Norddeutschland“. Und da war ich natürlich glückselig, denn meine Kollegin, die hat so ähnlich gesprochen, aber die war eben von woanders her, und die ist nach Prag ins Vernichtungslager geschickt worden und ich hab nur noch einmal im Leben etwas von ihr gehört. Da hat sie geschrieben: „Ich bin vernichtet an Leib und Seele.“ 

Und ich kam zu der Marschgruppe Oldenburg und da haben wir halt gewartet. Ich habe mich einer Frau mit drei Kindern ein bisschen angenommen. Und da ging es dann wohin? Das hat man damals gar nicht gewusst. Halt auf LKWs wurde alles geladen. Ich hab ja mein ganzes Gepäck weggehabt, nachdem ich in dem Wehrmachtswagen lag. Hinten war ja irgendwo in einem Auto mein Gepäck, also war ich alles los bis auf meine Aktentasche, auch die Geige. Ich habe jetzt mal geschrieben, die wird irgendwo in Böhmen vielleicht sein. Ich war alles los, ich hatte nur eine Aktentasche. Und da habe ich mich sehr um die Frau mit drei Kindern gekümmert. Und wir kamen da  alle auf LKWs. Die fuhren da und die rasten dahin und da fielen wieder Rucksäcke runter und Koffer runter, das war alles Wurst. Da fuhr man wieder drüber und ich kann das nicht beschreiben. 

Es war ein Chaos und dann am Abend hält, da hält der Tross da. Ja, wo sind wir denn? Keine Ahnung. Da war ein Bahnhof und da standen wir am Bahnhof von Dinkelsbühl. Ich hatte den Namen noch nie gehört. Und jetzt ging es los. Jetzt wurden wir da so eine Art verkauft. Ich ging recht schnell weg, ich war jung und allein, hatte kein Gepäck, aber ich dachte: „Hoppla, jetzt warte mal, bis die Frau mit den drei Kindern, was da geschieht.“ Und da kam ein Bauer: „Ich möchte 15 Personen für Wolfertsbronn.“ „So“, dachte ich, „15 Personen, da hast du noch Spielraum.“ Und dann kam man also nach Wolfertsbronn. Das ist ein Bauerndorf, jedes Haus ein Bauer. Heute ist es kein einziger mehr, nur als Beispiel. Ein großer Bauer. Und wir standen da unter einer großen Linde mitten im Ort. Und da kommt ein Bauer, Sense am Rücken, daneben seine Bäuerin und der guckt mich an: „Du gehst mit mir.“ Da war ich beim Bauern in Wolfertsbronn.