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Durch halb Europa nach Sindelfingen

Joachim Reinert wurde 1931 in Oberösterreich geboren. Die berufliche Wanderschaft des Vaters führte die Familie von Oberösterreich nach Ostfriesland, Lettland, das Sudetenland und schließlich wieder zurück nach Oberösterreich, von wo sie nach Ende des Krieges ausgewiesen wurde. Mit der Heirat einer Sindelfingerin wurde Sindelfingen zu seiner Heimat. Dort eröffnete er als Zahnarzt eine Praxis.

Ja, ich muss sagen, ursprünglich sind wir keine Flüchtlinge gewesen, denn mein Vater ist nach Österreich gegangen, weil er dort eine Flachsfabrik, eine Spinnerei, geleitet hat. Das Jahr 1936 war ein sehr kritisches Jahr. Mein Vater war an sich so eingestellt, dass das alte Österreich, das übrig geblieben ist, eigentlich ans Deutsche Reich angeschlossen gehört hätte, weil das wirtschaftlich nicht vorankommt. Diese Meinung war natürlich nicht sehr beliebt, woraufhin mein Vater Stadl-Paura, wo ich geboren bin, verlassen hat mit der ganzen Familie.

Ich darf das jetzt kurz schildern: Da sind wir nach Leer in Ostfriesland gezogen, man muss sich das mal vorstellen. Stadl-Paura ist Oberösterreich schönster Art und dann Leer in Ostfriesland. Na ja. Und dort war eine Fabrik zu bauen und als diese Fabrik fertig war, hat mein Vater gesagt: „Mensch, die braucht bloß noch einen Betriebsleiter, jetzt müsste ich nach etwas anderem gucken.“

Und dann sind wir nach Mitau in Lettland [Anmerkung der Redaktion: heute Jelgava], das ist ja nun auch ganz woanders. Dort bin ich dann in die Schule gegangen. Unter Schwierigkeiten muss ich sagen, weil Ostfriesland und deutsche Privatschule in Mitau … also na ja. Dann kam das Jahr 1939 und der Hitler-Stalin-Pakt und da sagte mein Vater: „Oh, oh, das wird hier ein bisschen brenzlig, wir gehen wieder in unser Heimatland.“

Unser Heimatland war ja das Sudetenland und da sind wir in einen Ort gegangen, der in Sindelfingen sogar sehr bekannt ist: Nach Würbenthal im Altvatergebirge. Da gab es auch wieder eine Flachsfabrik. Da haben wir dann ein paar Jahre verbracht bis mein Großvater starb. Der lebte in Trautenau im Riesengebirge und meine Großmutter hat sehr unter seinem Tod gelitten.

Deshalb ist meine Mutter nach Trautenau im Riesengebirge gezogen. Das lag etwa hundert Kilometer weiter westlich. Dort habe ich dann mein Gymnasium besucht und meine Mutter hat nebenher als Lehrerin gearbeitet, sie hatte nämlich Lehrerin studiert. Dann kam das Jahr 1945 und da hat meine Mutter gesagt: „Weißt du was, wenn die Russen kommen, dann hauen wir ab.“ Und so haben wir es gemacht. Wir sind dann mit Hilfe von baltischen Soldaten bis nach Karlsbad gekommen, aber dann ging der Motor kaputt. Also sind wir zu Fuß weitergezogen.

Ziel war wieder Österreich, Stadl-Paura, weil wir es ja kannten. Wir brauchten zu Fuß drei Wochen dorthin. Dort war es dann auch ganz ordentlich. Aber die Österreicher haben 1946 die Idee gehabt, alle Deutschen, egal ob die schon länger da lebten oder als Flüchtlinge dorthin gekommen sind, nach Deutschland zu transportieren. Wir sind mit einem Lastwagen und mit einem Güterwaggon nach Deutschland gebracht worden. Und wohin? Nach Göppingen in die WMF.

In der WMF war ein großes Flüchtlingssammellager und von dort wurden wir verteilt nach Weiler ob Helfenstein, das weiß heute keiner mehr, das ist ein bisschen zu lang. Aber dort waren die Flüchtlinge wirklich nicht sehr beliebt, weil auf 300 Einwohner 50 Flüchtlinge kamen. Schließlich hat mein Vater uns dort gefunden. Er ist Gott sei Dank am Leben geblieben. Er sagte: „Wir gehen wieder nach Deutschland.“ Wohin wohl? Nach Leer.

Die hatten dort einen neuen Direktor gesucht. Nach Leer in Ostfriesland, weil die Engländer die Fabrik kaputt gemacht hatten. Mein Vater hat die Fabrik wieder aufgebaut. 1949 war sie fertig. Dann war ich fertig mit der Schule und bin dann nach Bayern gegangen und habe dann später in Berlin Zahnmedizin studiert. Von dort aus bin ich als fertiger Zahnarzt nach Stuttgart gekommen und da haben sich unsere beiden Lebensläufe, möchte ich mal sagen, langsam berührt. Wir sind uns immer näher gekommen.