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Ausbildung und Berufswahl

© Horst Häußermann

Für 1949 wurden in der Bundesrepublik „mehr als 2 Millionen Kinder und Jugendliche“ festgestellt, die geflüchtet sind oder vertrieben worden sind, und „rund 1,6 Millionen […] Halb- oder Vollwaisen“.1 Flüchtlinge, Vertriebene und diejenigen, die durch Bombardierungen ihr Zuhause verloren hatten, wurden häufig zunächst bei Fremden einquartiert oder lebten in Notunterkünften.
Der Schulbetrieb war auf Anweisung der amerikanischen Militärregierung zunächst einzustellen.2 Der Unterricht an den Volksschulen sollte als erstes wieder aufgenommen werden,3 doch fehlte es an Lehrkräften, insbesondere an politisch unbelasteten Lehrkräften. „Pensionäre[…] oder Hilfskräfte[…]“4, wie zum Beispiel „Kaufleute, Sekretärinnen und Arbeiter“5 wurden zum Unterrichten bestellt, so dass zum 1. Dezember 1945 86 Prozent der Schüler in der amerikanischen Besatzungszone Unterricht erhalten konnte. Allerdings war zu diesem Zeitpunkt noch jede zweite weiterführende Schule wegen fehlender Gebäude, fehlenden geeigneten und politisch unbelasteten Personals für den Unterricht geschlossen.6 Am Gymnasium auf dem Goldberg in Sindelfingen konnte zum 9. Januar 1946 der Unterricht aufgenommen werden.7
Während im Wohnungsbau und in der Infrastruktur viel Aufbauarbeit zu leisten war, fehlte es an Lehrstellen. Im Altkreis Böblingen und Landkreis Leonberg waren die Lehrstellen bis zur Währungsreform 1948 äußerst knapp.8 Die Mehrzahl der männlichen Absolventen der Volksschule in den ländlichen Gemeinden strebte eine Ausbildung in Handwerk oder Industrie an. Das Angebot vor Ort oder in der Region bestimmte die Berufswahl. Junge Frauen wählten überwiegend „den Dienst“ in einer nahegelegenen Stadt, das heißt sie arbeiteten in der Hauswirtschaft. Nicht selten wurde ihre Hilfe in der elterlichen Landwirtschaft benötigt – etwa um einen noch in Gefangenschaft befindlichen oder im Krieg gefallenen Familienangehörigen zu ersetzen oder den kriegsversehrten Vater zu unterstützen.9
Noch 1950 hatten in der Bundesrepublik eine halbe Million Jugendliche keine Ausbildungs- oder Arbeitsstelle.10

1 Nikles, Bruno W., Jugendpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Entwicklungen, Merkmale, Orientierungen, 2. Aufl. Opladen 1978, S. 48f.
2 Joos, Kurt Ludwig, Schwieriger Aufbau. Gymnasium und Schulorganisation des deutschen Südwestens in den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2012, S. 97; 600 Jahre Lateinschule. Das Goldberg-Gymnasium und seine Vorläufer 1395 – 1995, herausgegeben von der Geschichtswerkstatt des Goldberg-Gymnasium, überarb., aktualisierte und erw. Neuauflage von ‚Das Goldberg-Gymnasium und seine Vorläuferschulen‘, Sindelfingen 1987, S. 104.
3 Joos, Kurt Ludwig, Schwieriger Aufbau, S. 110.
4 Ebd., S. 113.
5 Zwischen Hunger und Hoffnung. Nachkriegsalltag in Leonberg 1945 – 1949, herausgegeben von Cornelia Kaiser und Ingrid Katz, Leonberg 1998, S. 86.
6 Joos, Kurt Ludwig, Schwieriger Aufbau., S. 114.
7 600 Jahre Lateinschule, S. 107.
8 Hager, Helga, Lebenslinien, Ehningerinnen und Ehninger erzählen über ihr Leben und ihre Zeit, Band 2, herausgegeben von der Gemeinde Ehningen, Ehningen 2016, S. 163.; Bühler, Rudolf / Hager, Helga, MundWerk. Wia d’Leit läbet ond schwätzet, herausgegeben vom Landkreis Böblingen, Böblingen 2019, S. 158.
9 Bühler, Rudolf / Hager, Helga, MundWerk, S. 115, S. 196.
10 Nikles, Bruno W., Jugendpolitik in der Bundesrepublik Deutschland,S. 49.